wir leben in Zeiten, in denen die öffentliche moralische Bewertung gewisser Vorfälle wichtiger geworden ist als ihre strafrechtliche Relevanz. Besonders eklatant zeigt sich das am Fall des Rammstein-Sängers Till Lindemann. Der sieht sich seit Wochen einer Verdachtsberichterstattung ausgesetzt, in der Vorfälle, die nichts miteinander zu tun haben, vermengt werden, um damit Kasse zu machen. Sein Fall und der des veurteilten Sexualstraftäters Harvey Weinstein unter dem Schlagwort „MeToo“ zum Beispiel. Einvernehmlicher Sex mit Groupies hier, schwere sexuelle Übergriffe dort. Beides Monster, heißt es dann, obwohl die einzig strafrechtlichen Vorwürfe gegen Lindemann, dabei seien auch K.O-Tropfen zum Einsatz gekommen, sich zuletzt zunehmend als haltlos entpuppt haben. Als Rammstein-Fan (das ist die subjektive Komponente) und als Journalist (das wäre die objektive) habe ich das Interview unseres Autors Jens Peter Paul mit Lindemann-Anwalt Simon Bergmann mit größtem Interesse gelesen. Der kritisiert insbesondere den Spiegel und dessen „sensationsheischenden Stil“. Das Hamburger Nachrichtenmagazin sei bisweilen „Schlimmer als Bild“. Apropos Presse: Mein größter Aufreger diese Woche sind die Strafanzeigen wegen Volksverhetzung gegen die Journalisten Julian Reichelt und Judith Sevinc Basad. Die haben das mittlerweile überaus pedantische LGBTQI+-Tatütata (hoffenltich habe ich keinen Buchstaben vergessen) kritisiert – und damit den Zorn des neuen Queer-Beauftragten Berlins, Alfonso Pantisano, auf sich gezogen: Queermannsheil! Was den Fall zusätzlich grotesk macht: In wessen Namen Pantisano da jagt, ist nicht ganz klar. Er sagt: Im Auftrag des Senats. Die Berliner CDU und die Senatskanzlei sagen: stimmt nicht. Bevor wir zum nächsten Thema kommen, darf ich Sie auf eine Neuerung auf unsere Seite hinweisen. Wir möchten, dass Sie auf cicero.de nicht nur, wie gewohnt (Achtung: Selbstlob!), kluge Analysen, pointierte Kommentare und spannende Interviews lesen, sondern künftig auch über die wichtigsten Meldungen des Tages informiert werden. Dazu finden Sie (Desktop- bzw. Smartphone-Ansicht) jetzt eine entsprechende Spalte unter den jüngsten Beiträgen („Meldungen des Tages“). In unserer App können Sie diese ganz leicht anhand der Autorenzeile identifzieren: Cicero-Redaktion. Damit möchten wir Ihnen etwas mehr Full-Service bieten. Was war noch spannend diese Woche? Wenn Sie mich fragen, dann das hier: Der CDU-Fraktionsführer Friedrich Merz sieht die Grünen als Hauptgegner der Union. Kritiker legen ihm das als Rechtspopulismus aus und ziehen bereits Parallelen zur Rolle der Konservativen beim Aufstieg Hitlers. Diese Argumentation ist geschichtsvergessen, schreibt André Postert. Das Kommando Attacke von Friedrich Merz ist zweifellos eine Reaktion auf den derzeitigen Umfrage-Höhenflug der AfD. Für den neuerlichen Aufstieg der „Schwefelpartei“ (Norbert Bolz) gibt es verschiedene Gründe. Einer ist wohl dieser: Deutschland ist gerade dabei, die industrielle Basis seines Wohlstands zu verlieren. Das kann nur verhindert werden, wenn Christian Lindner endlich ernst macht. Vor einem Koalitionsbruch darf er nicht zurückschrecken, fordert mein Kollege Daniel Gräber. Abschließend darf ich Sie noch auf unseren hörenswerten neuen Podcast mit dem Kabarettisten, Musiker und Regisseur Serdar Somuncu hinweisen: Er hat mich und uns in der Berliner Redaktion besucht. Es ist ein langes, ein intensives Gespräch geworden, das wir (fast) ungekürzt am Freitag veröffentlicht haben. Über seinen Werdegang, seine zeitweise Obdachlosigkeit, die Corona-Jahre, die deutsche Spitzenpolitik und Sahra Wagenknecht. Somuncu sagt: „Das ist die schlechteste Bundesregierung, die wir je hatten.“ Übrigens finden heute Parlamentswahlen in Spanien statt – und der linken Minderheitsregierung droht eine ordentliche Wahlschlappe. Die ersten Hochrechnungen werden gegen 20 Uhr erwartet. Die dazugehörige Meldung finden Sie dann unter anderem – ganz genau! – in der Spalte „Meldungen des Tages“. Ich wünsche Ihnen eine gute Lektüre. Bleiben Sie optimistisch. Ihr Ben Krischke, Leitung Digitales |