Reisen verengt den Horizont. Mit dieser überraschenden Behauptung hat 1923 der englische Schriftsteller Gilbert K. Chesterton – Sie kennen von ihm mindestens die Detektivgeschichten mit Pater Brown – seinen großartigen Reisebericht „What I saw in America“ eröffnet. Chesterton hatte eine ungeheure Begabung, das Gegenteil von dem zu behaupten, was alle sagen, um sich dann unter Druck zu setzen, diese Gegenbehauptung unwiderleglich zu machen.
Wieso also verengt Reisen den Horizont? Chesterton meint, wer zuhause bleibt und an Lappländer, Chinesen oder Patagonier denkt, stelle sie sich als seinesgleichen vor. Als Menschen in Lappland, China oder Patagonien eben. Wer jedoch reise, stehe in der Gefahr, sich über fremde Sitten und Gebräuche zu amüsieren, zu erheben, sie zu benoten. Der Tourist übertreibt die Ungleichheit, er findet leicht überall nur Kurioses. Der Reisende lächelt, anstatt nachzudenken.
Jürgen Kaube
Herausgeber.
Kurz vor den Sommerferien ist das ein Gedanke, dem es nachzugehen lohnt. Insbesondere, wenn man sich vorher mit Reiseführern ausstattet. Sie werden unter merkwürdigen Titeln wie „Gebrauchsanweisung für…“ oder „Die 111 wichtigsten Orte in…“ angeboten. Doch Städte und Landschaften sind kein technisches Gerät, das funktioniert, wenn man die richtigen Knöpfe drückt. Und dass es 111 wichtigste Orte auf Norderney (wohin Franz Kafka im Sommer 1901 gereist ist und Bernd Eilert jüngst auf seinen Spuren ), in der Steiermark oder in Lissabon gibt, die „man gesehen haben muss“, wird bestreiten, wer jemals da war. Geschweige denn, dass ein Urlaub noch erträglich wäre, der sich unter dem Zwang jenes „Muss“ zum Ziel setzte, auch nur die Hälfte davon aufzusuchen.
Viel hilfreicher erscheint uns darum die Reiseliteratur, die festhält, wie es sich einst an den Urlaubsorten angefühlt hat, und mittels deren wir uns vom Hauch des Ortes wie der Vergangenheit anwehen lassen können. Nehmen wir den Mallorca-Schelmenroman von Albert Vigoleis Thelen, „Die Insel des zweiten Gesichts“, oder Julien Gracqs Roman „Der Versucher“ über die Gäste eines Standhotels in der Bretagne. Chestertons Buch über Amerika gehört in dieselbe Gattung von Reisebeschreibung, die uns nachdenklich macht, ebenso wie E.M. Forsters „A Passage to India“ (dt. „Auf der Suche nach Indien“).
Sie mögen auf das Alter dieser Werke hinweisen und zweifeln, ob das, was in ihnen geschildert wird, nicht doch zu lange her sei, um uns noch zu informieren. Doch da kommt vielleicht eine zweite Horizontverengung ins Spiel. Wir sehen oft nur das Neue, etwa die Verwandlung des Tempels in eine Ruine oder ein Museum. Als moderne Menschen überschätzen wir dabei womöglich, wie sehr sich die Orte ändern, und übersehen jedenfalls leicht die Elemente der Konstanz in ihnen. Die Literatur erlaubt es uns, Zugang zu den älteren Atmosphären und Gedanken zu finden, die sich aber mitunter augenblickshaft vergegenwärtigen. Wer Bücher wie die genannten liest, kann sich nicht nur die örtlich, sondern auch zeitlich entlegensten Menschen als seinesgleichen vorstellen.
Wer ist der Schriftsteller, um den es in unserem Literaturrätsel im Juni geht? Woher kam er? Und wofür war er berühmt? Finden Sie das Lösungswort! Von Jürgen Kaube
Im Sommer 1901 reiste Franz Kafka mit seinem Onkel, dem Landarzt, über Helgoland nach Norderney. Er sollte sich von seinen Abiturprüfungen erholen. Las er am Strand Hamsuns Roman „Hunger“? Von Bernd Eilert
Eigentlich wollte Klaus Willbrand sein Antiquariat schließen. Doch mithilfe einer jungen Freundin, Daria Razumovych, startet er plötzlich mit nuancierten Videos über Literatur in den sozialen Medien durch. Von Miguel de la Riva
Schluss mit dem Drama: Ann Patchetts neuer Roman zeigt, was reife Liebe jugendlicher Leidenschaft voraushat. Ein Gespräch über das Alltägliche in der Literatur, Schreiben auf dem Laufband und nette Trump-Wähler. Von Ursula Scheer
Jede Woche fragen wir Menschen aus dem Kulturbetrieb, was sie lesen und welches Buch in ihrem Schrank sie ganz bestimmt nicht lesen werden. Diesmal antwortet die Schriftstellerin Paula Irmschler.
Wer entscheidet, wofür sie steht, ist so umstritten wie der Besitz der Büste selbst: Sebastian Conrad stellt im Gespräch mit Stefan Trinks auf dem Festival LiteraTurm sein Buch „Die Königin – Nofretetes globale Karriere“ vor. Von Stefan Trinks
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Fort mit der Herrscherwillkür, her mit Gesetzen, die für alle gelten: Eine Liebeserklärung an den sagenhaften Schriftsteller Ludwig Börne, der für die Demokratie alles in die Waagschale warf. Von Daniel Kehlmann
Einzug ins Allerheiligste der Moderne: Das Centre Pompidou veranstaltet auf fünf Etagen den größten Comic-Ausstellungsstrauß, den Frankreich je gesehen hat. Von Andreas Platthaus
Pogo-Tanzen im Tweedjackett: Die Tiktok-Trends „dark academia“ und „coquette“ verbinden Jugendliche weltweit. Aber entsteht so auch eine Subkultur? Und hatten frühere Generationen es leichter damit? Von Susanne Romanowski
Ein Feuer im Nachbarhaus hat Offenbachs älteste Buchhandlung schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die Eigentümerin der Steinmetz’schen Buchhandlung arbeitet rund um die Uhr für den Neustart. Von Jochen Remmert
Der in diesem Jahr zum vierten Mal vergebene Deutsche Sachbuchpreis geht an die Professorin für Geschichte an der Universität Bielefeld Christina Morina.
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Sie verdichtet Kant, verfeinert Blumenberg und machte Cassirer wieder sichtbar: Zum siebzigsten Geburtstag der Hamburger Philosophin Birgit Recki. Von Thomas Meyer
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Ein Vulkanausbruch kurz vor dem Ende der Welt: „Eruption“ ist ein Manuskript aus dem Nachlass von Michael Crichton, Auflagenweltmeister James Patterson hat den Thriller vollendet. Ein neuer Blockbuster? Von Peter Körte
Der Zweck der Normen: Stephen Breyer, ehemaliger amerikanischer Höchstrichter, sammelt Argumente gegen den „Textualismus“, eine Tendenz der Rechtsauslegung am Supreme Court. Von Gertrude Lübbe-Wolff
Ein Porträt der Verflechtungen deutsch-türkischer Geschichte: Der Schriftsteller Ahmet Ümit schickt zwei Ermittler auf den Spuren eines Mörders durch Berlin. Bei der Tat spielen mythologische Motive eine Rolle. Von Maria Wiesner
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Kann man seiner Wahrnehmung trauen, wenn man sich selbst nicht ganz kennt? Tobias Elsäßers Jugendbuch „Mute - Wer bist du ohne Erinnerung?“ fragt nach dem Schicksal adoptierter Kinder. Von Rosalyn Kleutgens
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