eine Frau, die mit einem Messer durch die dicht gedrängte Menge geht – und völlig wahllos Menschen verletzt. Ohne Motiv. Der buchstäbliche Wahnsinn. Der Angriff am frühen Freitagabend durch die polizeibekannte und gerade aus der Psychiatrie entlassene Täterin Lydia S. (39), die bereits im Februar am Flughafen ein Kind attackiert haben soll, ist für häufige Hauptbahnhof-Nutzer auch deshalb so verstörend, weil er eher nicht aus heiterem Himmel kommt. Bei all dem menschlichen Elend und den psychischen Abgründen, die Hamburgern und Reisenden zwischen den Bahnsteigen, Treppen, Tunneln und Wandelhallen tagtäglich entgegenschlagen, wundere ich mich manchmal eher, dass nicht öfter furchtbare Dinge passieren. Drogen, Verelendung, Obdachlosigkeit – die Zahl der Menschen, deren einziger täglicher Anlaufpunkt der Hauptbahnhof ist und die schwerwiegende Probleme haben, ist groß. Den weit überwiegenden Teil von ihnen empfinde ich nicht als aggressiv, sondern vor allem als mitleiderregend. Manche sind sogar sehr engagiert. Ich habe viele bemerkenswert höfliche und in Sachen „Öffentlicher Auftritt“ geradezu talentierte Menschen in der S-Bahn getroffen, die innerhalb der wenigen Minuten zwischen zwei Stationen versuchen, das dicke Fell der Fahrgäste und Großstadtbewohner mit einem charmanten und reflektierten Vortrag zu durchdringen, um ein bisschen Unterstützung zu bekommen. Aber dann gibt es eben auch die Menschen, die wie Gespenster wirken. Getrieben. Verwirrt. Wie in einer anderen Welt. Unberechenbar. Manche laufen barfuß herum, auch im Winter. Manche sind in unfassbarem Zustand, ausgezehrt, verdreckt, gekleidet in Lumpen. Es schmerzt, dieses Leid zu sehen. Es ist unvorstellbar, was diese Menschen durchmachen müssen. Und als Passant guckt man dann meist schnell weg, weil: Was soll man tun?
Solche Szenen sind einerseits typisch für einen Großstadtbahnhof. Ein Hauptbahnhof spiegelt die gesamte Gesellschaft wider. Hier sind alle unterwegs. Hier wird alles sichtbar. Und das ist zum Teil schmerzhaft.
Es gibt aber schon Anzeichen dafür, dass die Situation am Hamburger Hauptbahnhof in der Wahrnehmung der Nutzer außergewöhnlich problematisch ist. Das liegt auch an der räumlichen Enge und den Massen. Aber, das liegt nah, auch am schieren Ausmaßes der Verelendung.
Wer auf die Situation am Hauptbahnhof nur mit Messerverbot und Polizeistreifen reagiert, wird sie nicht lösen. Kontrollen, wie die am Tag nach der Attacke, können immer nur stichprobenhaft sein, bei bis zu 500.000 Menschen, die täglich am Hauptbahnhof unterwegs sind. Und wer eine schwere Psychose hat, den schrecken keine Vorschriften. Diese Leute brauchen intensive und oft langwierige medizinische Behandlung. Und die ist extrem aufwendig und teuer. Insider berichten, dass die Zahl solcher Fälle zunimmt, während die Zahl der Betten in den entsprechenden Abteilungen seit Jahren rückläufig ist. Das ist kaum überraschend, denn mit dieser Art der Medizin können Klinikbetreiber wenig gewinnen, aber viel verlieren. Hinzu kommt der heikle Umgang mit der Frage des „Wegschließens“: Die Hürden sind hoch. Zu Recht. Die Verantwortung der Ärzte, die über Entlassung oder ein weiteres belegtes Bett entscheiden müssen, ist riesig, wie die Leiterin einer solchen Einrichtung meinem Kollegen Daniel Gözübüyük erklärte. Sie erklärt auch, warum man Menschen wie Lydia S. in der Psychiatrie Drehtür-Patienten nennt. Weder das Gesundheitssystem noch die Polizei werden diese wachsenden Probleme lösen. Hier ist die Politik gefragt. Und dafür wird Geld gebraucht. Viel Geld. Einen guten und sicheren Start in die Woche wünscht Ihnen Maik Koltermann chefredaktion@mopo.de |