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Liebe Frau Do, über die Weihnachtstage habe ich viel gelesen und besonders gut hat mir die Geschichte vom Neujahrsbäumchen gefallen, die von einem alten Brauch erzählt, von dem ich noch nie etwas gehört hatte. Meine Wünsche an Sie für ein gutes neues Jahr möchte ich mit dieser Geschichte verbinden. Herzlich Ihre |
WEIHNACHTSAPFEL UND NEUJAHRSBÄUMCHEN |
In meinem kleinen Heimatdorf in den Waldecker Bergen gab es noch in meiner Jugend eine schöne Sitte, die wohl ursprünglich auf heidnische Vorstellungen zurückging, uns Kindern aber deutlich machte, dass Weihnachten nicht am Abend des zweiten Weihnachtstages zu Ende war. Doch ich muss das der Reihe nach erzählen und will versuchen, auch nichts auszulassen. Auf dem bunten Weihnachtsteller, den wir alljährlich unter dem Christbaum fanden, lag meistens obenauf ein besonders schöner Apfel. Der stammte immer vom gleichen Baum, war sehr fest und fing erst um die Dezembermitte an, dunkelrot zu werden. Keinem von uns Kindern wäre es eingefallen, diesen Apfel aufzuessen, denn er hatte einen ganz bestimmten Zweck. Am dritten Weihnachtstag, bei uns wurden die Tage »zwischen den Jahren« alle noch als Weihnachtstage gezählt, am dritten Weihnachtstag also machte man sich auf und brachte diesen Apfel seinem Paten oder seiner Patin. »Onkel, ich bringe dir meinen Weihnachtsapfel«, war der vorgeschriebene Satz. Der Pate nahm den Apfel an, und das Patenkind gab ihn gern, weil es wusste, dass er wieder zu ihm zurückkam. Das war dann am Neujahrsmorgen, wenn man der Patentante oder dem Patenonkel ein gutes neues Jahr wünschte und sein Neujahrsbäumchen bekam. Ich selber hatte das Glück, dass mein Großvater auch mein Taufpate war, und so habe ich viele Male zuschauen dürfen, wie so ein Neujahrsbäumchen entstand. Wenn Opa in seiner Werkstatt verschwand, um sein Taschenmesser, dieses vielseitige Werkzeug, auf dem uralten Wetzstein zu schärfen, dann stieg Großmutter auf den Dachboden und holte ein Säckchen mit besonders schönen Haselnüssen, die sie vorausschauend vor der weihnachtlichen Nussknackerei gerettet hatte. Großvater brachte von draußen einen gut gewachsenen Buchsbaumzweig mit und setzte sich dann in seinem Sessel zurecht, um mit Geschick und Geduld das Neujahrsbäumchen entstehen zu lassen. Der Buchsbaumzweig wurde in die Blüte des Apfels gesteckt, und dann musste probiert werden, ob der Apfel auch genug Standfläche hatte, um das Bäumchen zu tragen. Mit seinem scharfen Messer schnitt Großvater darauf die Spitze einer Nuss ab und spaltete die Schale ein wenig auf. In den schmalen Ritz wurde ein Buchsbaumblättchen geklemmt. Das war eine mühevolle Geduldsarbeit und musste so oft wiederholt werden, bis zwölf Nüsse am Bäumchen hingen, für jeden Monat des neuen Jahres eine. Ich hatte nichts dagegen, wenn ab und zu eine Nuss aufplatzte, denn dann bekam ich den Kern und durfte ihn aufessen. Meine Sorge war nur, Großvater könne einmal die Geduld verlieren, ehe mein Bäumchen fertig war. Das ist aber zum Glück niemals der Fall gewesen! Wenn ich dann am Neujahrstage die Großeltern besuchte, um ihnen »Glück und Gesundheit zum neuen Jahr« zu wünschen, bekam ich meinen Weihnachtsapfel zurück mitsamt dem schmucken Neujahrsbäumchen. In meinem Apfel steckte auch immer noch ein »Neujahrstaler«, das war ein blankgeputztes Fünfmarkstück. Es wanderte in meine Sparbüchse, »damit mir im ganzen Jahr nie das Geld ausgehe«, wie Oma erklärend sagte. So stand das Neujahrsbäumchen noch auf der Fensterbank, wenn der Weihnachtsbaum längst abgeräumt war. Fiel eine Nuss von selber herunter, durfte man sie essen und sich insgeheim etwas wünschen. Zu Lichtmess aber, am 2. Februar also, musste das Bäumchen weichen, und die letzten Nüsse wurden geknackt. Dann war Weihnachten endgültig vorbei. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie diese Sitte wohl entstanden sein könnte. Der Apfel als Symbol der Liebe und des Lebens, der immergrüne Buchsbaum als Zeichen der Beständigkeit und die Nüsse als Abbild des täglichen Brotes hatten bestimmt eine tiefe Bedeutung. Eine gesicherte Erklärung fand ich aber weder durch eigenes Nachdenken noch in klugen Büchern. Doch ungeachtet dessen haben unsere Kinder auch ein Neujahrsbäumchen bekommen, und jetzt bewahren unsere Enkel ihren Weihnachtsapfel für den gleichen Zweck auf. Heinz Hamm |
Die Geschichte finden Sie in im Geschenkbuch »Ein Schneemann feiert Weihnachten« |
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